Der Abzug der NATO aus Afghanistan und der damit verbundenen zweiten Machtübernahme der Taliban, stellt nicht nur im regionalen Kontext eine Herausforderung dar. Die zukünftige Entwicklung Afghanistans tangiert zwar im größeren Maße die Sicherheitsinteressen der regionalen Mächte wie China, Russland, Indien, Pakistan und dem Iran, aber letztendlich auch die Europas.
In erster Linie sind für Europa der internationale Terrorismus, eine potentielle Destabilisierung der Nachbarländer Afghanistans und der damit verbundenen Fluchtbewegung aus dieser Region nach Europa von entscheidendem Interesse. Alle drei Aspekte hängen wiederum davon ab, ob Afghanistan eine gewissen Stabilität erfährt und wie diese Stabilität durch die Taliban gestaltet wird. Diese drei Aspekte hängen ferner weit aus stärker von den Taliban ab als von der Fähigkeit und Bereitschaft geostrategischen Handeln Europas.
Maßgeblich wird die Stabilität davon bestimmt, inwieweit es den Taliban gelingen kann, eine Isolation wie Ende der 1990er Jahren zu vermeiden, eine Waffenruhe durchzusetzen, den politischen Willen der lokalen Eliten für ein stabiles Afghanistan zu gewinnen und Stellvertreterkriege im eigenen Land wie beispielsweise in Syrien zu unterbinden. Damit verbunden werden die Taliban die Herausforderung meistern müssen die Aktivitäten von Terrororganisationen welche den „fernen“ Feind bekämpfen wollen, hier insbesondere die al-Qaida (AQ), einzudämmen oder zumindest ihre Präsenz nach Pakistan verlegen zu lassen. Weitaus schwieriger könnte sich der Kampf gegen Widerstandsgruppen und Terrororganisationen, wie den Islamischen Staat Khorasan Provinz (IS-KP) entwickeln, die in erster Linie den „nahen“ Feind, die Taliban, bekämpfen könnten.
Die Taliban, welche annähernd 20 Jahre lang als Terrormiliz von der asymmetrischen Kriegsführung gegen die NATO profitiert hatten, befinden sich paradoxerweise jetzt selber in der schwierigen Situation einerseits „Nation Building“ betreiben und andererseits gegen Terrororganisationen im eigenen Land vorgehen zu müssen.
Was bleibt ist die Frage nach der Zukunft Afghanistans mit einem Taliban-Regime. Prognosen über solche Entwicklungen sind sicherlich schwer zu treffen, die Lage ist komplex, volatil, mehrdeutig in den von den Taliban gegebenen Signalen und es herrschen Unsicherheiten hinsichtlich der notwendigen Informationen zur Lagebeurteilung. Unerwartete Ereignisse und Zufälle können den Verlauf der Entwicklungen stark beeinflussen. Komplexe Systeme sind gekennzeichnet von schwer auszumachender Wechselwirkungen der unzähligen Faktoren mit nicht-linearer Reaktionen. Allerdings lassen sich mögliche Szenarien und deren Plausibilität, auf Grundlage der Analyse der Gegenwart, zumindest für die nächsten sechs bis maximal zwölf Monate, ausmachen.
In den kontrollierten Gebieten und in Kabul konnten die Taliban bisher weitgehend eine gewisse Ordnung im öffentlichen Raum etablieren. Bis auf den Anschlag des IS-KP am Flughafen von Kabul und Plünderungen in der Chaos Phase während der Übernahme der Hauptstadt, scheint sich die Lage in Afghanistan zunächst beruhigt zu haben.
Als nächsten unmittelbaren Schritt versuchen die Taliban die Verwaltung sowie das Rechtssystem im Land nicht kollaborieren zu lassen und haben bereits eine Übergangsregierung ernannt. Im Kabinett finden sich vorerst nur langjährige Mitglieder der Taliban. Offen bleibt die Frage, wie lange die Übergangsregierung im Amt bleiben wird. Man sollte nicht unterschätzen, dass die Religion, auch der Fundamentalismus, insbesondere auf dem Land eine Tatsache ist. Die Legitimation der Taliban speist sich zum Teil auch daraus, dass sie als religiös authentische Organisation Wahrgenommen werden.
Den ersten größeren Widerstand, angeführt durch Ahmad Massoud und dem Nationalen Widerstandsfront (NRF), könnten die Taliban im Pandschir-Tal in nächster Zeit niederschlagen. Es finden derzeit zwar noch Kampfhandlungen statt, aber diese werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Dominanz der Taliban nicht gefährden.
Ab diesen Punkt könnten sich nun mehrere möglicher Szenarien entwickeln, von denen nachfolgend, ein plausibles vorgestellt wird.
Die Taliban werden an der Komplexität in Afghanistan scheitern!
Wenn man das für Afghanistan gern verwendete Sprichwort für den durchhalte Willen der Taliban aufführt; „Ihr habt die Uhr, wir haben die Zeit“, dann ist sich die Taliban-Führung auch bewusst, dass sich mit der Zeit auch der Kontext in Afghanistan als auch Global verändert hat. Die heutige Welt ist im Gegensatz zur ersten Taliban-Herrschaft, gekennzeichnet von einer konfliktträchtigen Mulitpolarität staatlicher und nicht-staatlicher Akteure, welches zum Teil unübersichtlich ist. Nicht zu unterschätzen, die Welt ist durch die Digitalisierung weit aus stärker vernetzt. Die Taliban müssen in Zeiten von Social Media stärker auf ihre Außenwirkung achten, sowohl gegenüber den Afghanen als auch gegenüber dem Ausland.
Die Erfahrungen aus der ersten Taliban-Herrschaft wird die Organisation dazu verleiten, andere Ethnien am „Nation Building“ zu integrieren, jedoch nur im Rahmen der von ihr interpretierten religiösen und rechtlichen Normen der Scharia. Eine besondere Herausforderung wird es sein, die Rechte der Frauen, wie Bildungs- und Berufschancen, nicht vollständig rückgängig zu machen.
Um die internationale Isolation aufzubrechen, werden die Taliban bemüht sein, die Aktivitäten von Terrororganisationen die das Ausland ins Visier nehmen, einzudämmen oder über die Grenze nach Pakistan verlegen zu lassen. Hier wird der Fokus auf die al-Qaida und dem Haqqani-Netzwerk gelegt werden müssen.
Insgesamt wird es das Ziel der Taliban-Führung sein, ihren Fundamentalismus weniger radikal erscheinen zu lassen, um einfacher mit dem Ausland kooperieren zu können, welche ihre Zusammenarbeit mit den Taliban vor der eigenen westlichen Bevölkerung legitimieren müssen. Die während der Machtübernahme veröffentlichten Bilder von Taliban-Kämpfern im Freizeitpark waren keine Zufälle. Das ist gut inszenierte Propaganda.
Die Taliban-Führung weiß das sie weite Teile des Landes kontrollieren können, ihr aber die ökonomischen Mittel fehlen einen Staat aufzubauen. Entsprechend ist die Hilfe aus dem Ausland für den Aufbau des Landes absolut notwendig. Doch dieser Pragmatismus wird intern, insbesondere bei den jüngeren und radikaleren Taliban-Mitgliedern, welche die Fehler aus der ersten Taliban Herrschaft nicht selbst erlebt haben, zu Konflikten führen.
Macht korrumpiert! Das gilt auch für die Taliban. Die dauerhaften internen Machtkämpfe um Posten sowie ideologischen Ausrichtung sowie Abwanderung von Mitgliedern zu radikaleren Organisationen wie den IS-KP wird die Aufmerksamkeit der Führung auf diese Konflikte lenken und wird die Taliban zunehmend schwächen. Diese interne Schwächung wird die Organisationen nach außen hin nicht verbergen können. Wenn die Gegner der Taliban deren inneren Konflikte bemerken, werden sie die Möglichkeit ergreifen bei Verhandlungen ihre Interessen aus der Position der Stärke vorzutragen.
Da die Taliban, welche die Tribalismus in Afghanistan viel besser verstehen als es der Westen je verstand, werden Verhandlungsformen wie die Versammlung (Dschirga) welche sie aus dem Paschtunwali kennen, auf lokaler Ebene zu Konfliktbewältigung nutzen. Allerdings werden die internen Konflikte und der äußere Druck andere Ethnien und militanten Organisationen dazu führen, dass die Taliban diese Komplexität nicht managen können. Ihre Lösung zur Komplexitätsreduzierung wird es sein, kompromissloser, gewaltbereiter und wieder fundamentalistischer aufzutreten.
Damit katapultieren sie sich allerdings schleichend in einen Teufelskreis; von weniger Verhandlungen und Kompromissen, welche zu mehr Frust und Widerstand anderer Gruppen führen wird, zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Auf diese werden die Taliban wiederum mit noch mehr Härte und Rücksichtslosigkeit reagieren; der Beginn einer Gewaltspirale. An diesem Punkt wird die Lage zunehmend dynamisch, die Ereignisse beschleunigen sich.
Wenn eine Organisation es bisher unter Beweis stellen konnte sich verändernde Lagen flexibel einstellen zu können, dann ist es der Islamische Staat. Die Schwäche der Taliban und die zunehmend angespannte Lage in Afghanistan wird der IS-KP zu Terroranschlägen nutzen und
gleichzeitig den „fernen“ Feind, insbesondere den Westen propagandistisch bedrohen, auch wenn die Organisation operativ ihren Fokus auf Afghanistan beschränken wird.
Die sich aufschaukelnde Instabilität wird ferner andere Organisationen ermuntern ihre Aktivitäten auszubauen. Mit der Folge, dass staatliche Akteure in der Nachbarschaft ihre Sicherheitsinteressen gefährdet sehen.
Grundsätzlich haben die staatlichen Akteure in der Region und die Taliban einen gemeinsamen Nenner; die Unterbindung terroristischer Aktivitäten. Jedoch zeigen Erfahrungen aus anderen Konfliktregionen, dass die Vielzahl nicht-staatlicher Akteure und die Rivalität zwischen den staatlichen Mächten in einer Krise wie Brandbeschleuniger wirken, so sehr, dass staatliche Akteure dem Selbstschutz Willen beginnen, nicht-staatliche Akteure zu instrumentalisieren um eigene Interessen zu realisieren.
Eine sich ausbreitende Unsicherheit über das Verhalten andere Akteure wird dazu führen, dass sich Bündnisse und Konflikte entlang der Bruchlinien von Ethnien, Stämme und Religionsgemeinschaften bilden werden. Der Iran wird hierzu beispielsweise die al-Haschd al-Shii und die Fatemiyoun-Brigaden einsetzen. Die Türkei könnte sich der „East Turkestan Islamic Movement“ (ETIM) bedienen um eigene Interessen zu verfolgen. Die militante uigurische ETIM tangiert hingegen direkt die Sicherheitsinteressen Chinas. Russland befürchtet die Aktivitäten der „Islamischen Bewegung Usbekistan“ und die „Jamaat Ansarullah“ auf ihrem Staatsgebiet. Die Liste von militanten Gruppen könnte man an dieser Stelle beliebig fortsetzen.
Letztendlich wird die Taliban-Herrschaft von der anfänglich etablierten Stabilität zunehmend in eine Gewaltspirale manövrieren. Die Komplexität des Konflikts in Afghanistan wird nicht beherrscht werden können, so das sich eine langanhaltende Fragilität im Land entwickeln wird.
Afghanistan ist das Grab der Großmächte. Afghanistan wird zwar die Taliban-Herrschaft nicht begraben, aber Frieden wird das Land leider wahrscheinlich vorerst auch nicht finden.